75 Jahre ihres Lebens hat Frau Antonowa dem Puschkin-Museum gewidmet – ihr Name stand für die Institution symbolisch. Unter ihrer Leitung wurde das Museum zum bedeutendsten Kulturzentrum des Landes und erregte internationales Aufsehen. Hier fanden Dutzende erfolgreiche Ausstellungen statt, das Dezembernächte-Festival, vor vierzig Jahren von Irina Antonowa und Swjatoslaw Richter ins Leben gerufen, bleibt heute noch legendär.
Während des Zweiten Weltkrieges pflegte sie, nachdem sie eine Ausbildung zur Krankenschwester abgeschlossen hatte, die Verwundeten im Krasnaja-Presnja-Spital. Nach dem Abschluss ihres Studiums an der Moskauer Staatlichen Universität trat sie am 10. April 1945 ihren Berufsweg am Staatlichen A.S. Puschkin-Museum der bildenden Künste als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für westeuropäische Kunst an. In den Jahren 1946 bis 1949 war sie Doktorandin am Lehrstuhl des Museums und widmete sich der Erforschung der italienischen Renaissance. Vom Februar 1961 bis Juli 2013 hatte Irina Antonowa das Amt der Direktorin inne, 2013 wurde sie zur ersten Präsidentin des Museums.
In den Jahrzehnten, in den Dr. Irina Antonowa die Ämter bekleidete, hatte das Staatliche A.S. Puschkin-Museum für bildende Künste wie kein anderes die Ehre, mehreren Generationen der Landesgenoss*innen das umfangreiche Weltkulturerbe zu präsentieren. Allein ihr mutiger Entschluss machte 1981 die epochale Ausstellung Moskau – Paris. 1900–1930 möglich: in den Zeiten der harten ideologischen Kontrolle markierte diese Schau einen Durchbruch in der Rekonstruktion des wahren Panoramas der russischen Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts. Dank der weltweiten Anerkennung ihrer Berufsergebenheit konnte 1974 das berühmteste Kunstwerk aller Zeiten, Leonardo da Vincis Mona Lisa, in Moskau gezeigt werden.
Von all den Projekten, die Dr. Irina Antonowa im Laufe der Jahre verwirklichte, sind insbesondere die Ausstellungen Die Schätze des Tutanchamun-Grabs (1973), Marc Chagall. Zum 100. Geburtstag (1987), Die Welt der Etrusker (1990, 2004), Moskau – Berlin. 1900–1950 (1996), Auf dem Weg zu Proust (2001), Russland – Italien. Durch die Jahrhunderte. Von Giotto bis Malewitsch (2005), Turner. 1775–1851 (2008) und Alberto Giacometti (2008) zu nennen, die selbstverständlich nur einen Bruchteil ihres Gesamtwerks bilden.
1974 initiierte Irina Antonowa nach der Grundrenovierung des Museums die seit jeher größte Umgestaltung der Dauerausstellung. Nach einem langen Kampf mit kritisch gestimmter Kunstszene und der Öffentlichkeit fasste sie den Entschluss, einen bedeutenden Teil der der Abgusssammlung gewidmeten Räume im 1. Obergeschoss des Museums zugunsten der Erweiterung der öffentlich zugänglichen Gemäldesammlung zu opfern, in der unter anderem die Werke der Impressionisten und Postimpressionisten gezeigt wurden.
Dank ihrem vorbildlichen Engagement gewann das Museum um ein Vielfaches an der Fläche. Die unmittelbar angrenzenden Gebäude wurden in das Museumssystem integriert. Den Anfang machte 1961 die Übergabe des Hauses, das heute das Kupferstichkabinett beherbergt. Später gelang es Dr. Antonowa, dem Traum des Museumsgründers Iwan Zwetajew von einem „Museumsstädtchen“ erste reale Züge zu verleihen. Die Renovierungsarbeiten an mehreren Bauten werden heute in hohem Tempo weitergeführt. In den kommenden Jahren erstrahlt das von Irina Antonowa konzipierte Museumsquartier in voller Pracht.
1967 rief die Direktorin im Andenken an den herausragenden sowjetischen Kunsthistoriker und langjährigen wissenschaftlichen Leiter des Puschkin-Museums Boris Wipper die Wipper-Lesungen ins Leben. Die Besonderheit dieses wissenschaftlichen Symposiums war und bleibt die vielseitige Besprechung kunsthistorischer und kulturwissenschaftlicher Fragen am Beispiel der aktuellen Ausstellungen im A.S. Puschkin-Museum.
Nicht zu vergessen ist ihr Beitrag zur Rückkehr der großen Namen der Kunstsammler vergangener Epochen auf die heutige Tagesordnung. Das sind unter anderem die Namen der Mäzen Sergei Iwanowitsch Schtschukin und Iwan Abramowitsch Morosow, aber auch der des Kunsthistorikers und Sammlers Ilja Samojlowitsch Silberstein, mit dem sie zusammen das Museum der Privatsammlungen (heute Abteilung für Privatsammlungen) ins Leben rief und als Teil des Puschkin-Museums im Januar 1994 feierlich eröffnete.
Frau Dr. Irina Antonowa war Ehrenmitglied des International Council of Museums (ICOM), Mitglied der Russischen Akademie der Künste, der Russischen Akademie der Bildung, Ehrendoktorin der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität und Verehrte Kunstschaffende der Russischen Föderation.
Neben dem russischen Verdienstorden für das Vaterland aller Klassen war Irina Alexandrowna Antonowa Trägerin einer Reihe hochrangiger sowjetischer Ehrenzeichen wie des Ordens der Oktoberrevolution, des Ordens des Roten Arbeitsbanners und des Ordens der Völkerfreundschaft sowie des Staatspreises der Russischen Föderation (1995 und 2017).
International wurde sie mit dem Verdienstorden der Italienischen Republik, dem französischen Orden der Künste und der Literatur und der Komtur der Ehrenlegion geehrt. Für außergewöhnliche Verdienste im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Japan und Russland wurde ihr der mehrfarbige Orden der Aufgehenden Sonne am Band verliehen.
Seit Jahrzehnten war das Staatliche A.S. Puschkin-Museum der bildenden Künste ohne Irina Antonowa, ihres unbeugsamen Willens und beflügelnden Engagements schlicht undenkbar. Bis zu ihren letzten Tagen lebte die Präsidentin das gemeinsame Museumsleben in vollen Zügen, nahm hingebungsvoll an den Besprechungen laufender Projekte und langfristiger Strategien teil und verfocht eifrig und konsequent ihren Standpunkt.
Für Kolleg*innen und Mitstreiter*innen ist der Tod von Frau Dr. Irina Antonowa ein unermesslicher, persönlicher Verlust, der nur mit dem Verlust einer nahen Angehörigen vergleichbar wäre. Für viele und viele, die sie als Museumsbesucher*innen, Zuschauer*innen, Intellektuelle verehrten, markiert dieser Tag das Ende einer ganzen Epoche im geistigen Leben des Landes. In den 50 Jahren ihres Direktorats prägte sie die heutige Gestalt des Staatlichen A.S. Puschkin-Museums für bildende Künste und diente mehreren Generationen der Fachkräfte als unübertroffenes Beispiel. Die Aufgabe des heutigen Puschkin-Museums ist, ihr Lebenswerk fortzuführen, indem wir weiterhin selbstlos der hohen Kunst dienen und die Brücken zwischen Zeiten und Kulturen bauen werden – in dieser Aufgabe wird Irina Alexandrowna Antonowa weiterleben.
Die Mitarbeiter*innen des Staatlichen A.S. Puschkin-Museums für bildende Künste
Es wird uns schwer fallen, sich das Staatiche A.S. Puschkin-Museum für bildende Künste ohne Irina Alexandrowna Antonowa vorzustellen. Dem Mythos des Puschkin-Museums war ihre Gestalt unentbehrlich, sie war sein Wahrzeichen, das Symbol seines facettenreichen Wesens. 1945 betrat sie als junge Frau seine Räume und erschien seitdem, abgesehen von einigen Monaten des coronabedingten Lockdowns in diesem Jahr, jeden Tag zur Arbeit. Wir haben uns an ihre immerwährende Präsenz gewöhnt. Auch wenn wir gerade nicht in gemeinsame Besprechung geschäftlicher Fragen vertieft waren und nur das Rascheln der Papiere in ihrem Büro oder ihre Stimme hinter der Tür hörten, wussten und spürten wir, dass sie für uns da ist – ein sehr emotionaler, aufrichtiger, still ihrem Lebenswerk ergebener und in ihrer Lebensauffassung äußerst ernster Mensch, wie sie war. Kaum könnte ich eine andere Institution nennen, die so sehr mit dem Bild ihrer Leiterin verwachsen ist wie das Puschkin-Museum mit dem von Frau Antonowa. Als Fachkraft und Person fürchtete sich Irina Alexandrowna vor gar nichts. Im Laufe ihres Berufslebens machte sie beeindruckende Fortschritte, die zugleich Schritte einer Frau, die sich nicht scheut, ein Risiko einzugehen, waren. Damit bewies sie uns, dass sie Taten und Überzeugungen über alles schätzte. Vor allem war es daran zu merken, dass sie ihre großen Ziele während der Sowjetzeit, in der vieles, was wir heute für selbständig halten, unter Verbot stand, erreichte. Umso höher schätzen wir, wieviel Kraft ihr die Durchführung der Projekte Moskau – Paris. 1900–1930 (1981), Moskau – Berlin. 1900–1950 (1996) und weiterer Ausstellungen weltberühmter Künstler sowie der eintägige Besuch der Mona Lisa in Moskau im Jahre 1974 kosteten. Vor deren Rückkehr nach Deutschland wirkte Irina Antonowa an der Erhaltung, Restaurierung und Ausstellung der Meisterwerke der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit. Jeder Augenblick ihres Lebens war unmittelbar mit der erfolgreichen und einzigartigen Geschichte des Staatlichen A.S. Puschkin-Museums der bildenden Künste verbunden. Wir, die Mitarbeiter*innen des Museums, werden ihre Kompromisslosigkeit, ihre ehrliche Meinung, ihre Bereitschaft, mit offenem Visier zu kämpfen, ihre Kunst, das Alltägliche hinter sich zu lassen und große Mut zu zeigen, sehr vermissen. Zweifellos wird Irina Alexandrowna Antonowa uns allen als Teil unseres Lebens und unseres Wesens fehlen.
Marina Loschak, Direktorin des Staatlichen A.S. Puschkin-Museums für bildende Künste